Geschriebene Predigt für den Sonntag Estomihi (14.02.2021) – gerne auch zum Ausdrucken, Kopieren und Weitergeben…
Liebe Gemeinde zu Hause!
Mit dem Aschermittwoch beginnt in der kommenden Woche die Passionszeit, in der wir in besonderer Weise an Jesu Leiden und Sterben denken, uns aber auch auf das besinnen, was wirklich wichtig ist im Leben. Fasten nennen das viele und nehmen sich vor, in dieser sogenannten Fastenzeit ganz bewusst auf etwas zu verzichten: Sieben Wochen ohne Alkohol oder ohne Süßigkeiten, vielleicht auch sieben Wochen ohne Angewohnheiten wie Fernsehgucken oder das ständige Unterwegssein in den sozialen Netzwerken.
„Spielraum! Sieben Wochen ohne Blockaden“ – so lautet das Motto der Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr.
Covid-19, das Virus, das uns, unsere Gesellschaft und die ganze Welt seit einem Jahr attackiert, es hat mancherlei Blockaden errichtet. Und auch wir, um es sinnvollerweise abzuwehren und niemanden zu gefährden. Spielräume sind weggefallen. Begegnungen, Feste und Feiern, Urlaubsreisen – alles steht unter einem neuen, bedenklichen Vorzeichen.
„Dennoch“, heißt es in der Bibel an vielen Stellen. Die schönste davon, im Psalm 73, lautet: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat…“ Gottvertrauen eröffnet auch in schlechten Zeiten ungeahnte Spielräume, wenn man sich nicht selbst blockiert und auf stur schaltet. Sich selbst blockieren - im Wesentlichen sind es doch in unserer Wohlstandsgesellschaft innere Zwänge, die uns unfrei machen. Da ist beispielsweise der innere Zwang, besonders gut arbeiten zu müssen. Dann reicht es nicht, gut zu sein, dann muss man schon besser sein als alle anderen. Wie ist das dann, wenn einmal bei der Arbeit etwas schiefläuft? Wie sieht es dann mit dem eigenen Selbstwertgefühl aus? Definiere ich mich selbst über meine Arbeit?
Ein weiteres Beispiel für die innere Unfreiheit ist tatsächlich beim Essen und Trinken zu finden. Vielleicht kennen Sie, kennt Ihr diese Gedanken auch: wieso habe ich eigentlich die Tafel Schokolade auf einmal gegessen oder die Tüte Chips oder wieso musste es noch ein weiteres Glas Wein oder die x-wievielte Flasche Bier sein? Dann stellt sich einem meist am nächsten Tag die Frage: wer ist eigentlich Herr im Haus?
Ein weiteres Beispiel für die innere Unfreiheit ist der Konsumzwang: etwas unbedingt haben müssen, weil die Werbung verspricht, dass es gut ist und dazu noch gar nicht mal so teuer. Aber brauche ich das wirklich alles: Air-Pods, das neueste I-Phone, den neuesten Computer oder Fernseher, Thermomix, usw.
Wenn man mal darüber nachdenkt, dann sind wir in vielerlei Hinsicht unfrei; wir werden gelebt, aber wir leben nicht selbst. Wir brauchen Befreiung in vielerlei Hinsicht. Wir sehnen uns nach innerer Heilung und tiefen Frieden und danach, die Liebe Gottes zu uns Menschen auch wirklich spüren zu können.
Wie können innere Blockaden abgebaut werden, wie geschieht Befreiung – wie kann sie dauerhaft gelingen? Wie kann es gelingen, neue Spielräume für unser Denken und Handeln zu finden? Darauf gibt uns der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja eine Antwort. Er enthält Worte, die mehr als 2500 Jahre alt sind. Noch Jahrhunderte vor Jesu Geburt hat der Prophet Jesaja dem Volk Israel Gottes Willen verkündigt. Die Menschen damals konnten eigentlich ganz zufrieden sein, als die Zeit der Gefangenschaft in Babylon zu Ende war. Nach den Jahrzehnten der Fremdherrschaft und dem Leben in der Verbannung war in Israel wieder Frieden eingekehrt, jedenfalls äußerlich. Das Leben lief wieder in gewohnten Bahnen. Manche waren zu etwas Wohlstand gekommen, andere litten aber auch Not und gerieten in Abhängigkeiten. Jeder versuchte über die Runden zu kommen, so gut es ging. Aber etwas fehlte noch: Leere machte sich breit. Es gab keine Visionen, keine Hoffnung für die Zukunft, es fehlte die Begeisterung. Gott schien in unnahbarer Ferne. Mit frommen Übungen versuchten darum einige, sich der Nähe Gottes zu vergewissern. Wenn ich faste, und in Sack und Asche gehe, muss Gott mir doch gnädig sein, sagten sich manche, dann muss er mir doch freundlich begegnen. Doch Gott blieb scheinbar fern und die Menschen klagten: „Warum fasten wir und du siehst es nicht an?“ Diese Haltung rief den Zorn des Propheten hervor und er rief:
„Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“ (Jesaja 58,4-9a)
„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ Die Botschaft ist so klar wie vor 2500 Jahren, die Not, auch in unserer Gesellschaft heute, ist greifbar. In den zurückliegenden Monaten ist die Not nicht geringer geworden, wir müssen uns nur umsehen, genau hinhören und uns anrühren lassen, ja von uns selbst absehen und den Blick anderen zuwenden. In unserer Nähe leben Menschen, die in den zurückliegenden Jahren als Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Manche brauchen noch immer ganz praktische Unterstützung. Ich sehe darüber hinaus viele alte Menschen, die sehnsüchtig darauf warten, besucht zu werden, auf Menschen zu stoßen, die einfach Zeit für sie haben. Manche Familien sind in den letzten Monaten infolge der Coronapandemie in eine wirtschaftliche Schieflage geraten und brauchen nun materielle und seelische Unterstützung. Auch bei uns leben Kinder, die zu Hause in schwierigen Verhältnissen leben und in der Schule den Anschluss verloren haben. Dringend brauchen sie ein offenes Ohr und Hilfe auf ihrem Weg.
Die Not ist nicht weit weg. Wir müssen uns nur umschauen und genau hinschauen. Manche sagen: Ich brauche doch selbst Hilfe. Ja, so ist es. Oft ist in uns selbst beides: Wir brauchen Unterstützung und können gleichzeitig mit anderen teilen. Menschen, die sich gegenseitig helfen, die die Not der anderen sehen und zugleich Hilfe in Anspruch nehmen können, auf diesen Menschen liegt Gottes Verheißung.
Dazu gehört dann auch, verzichten zu lernen: auf Geld und Besitz, auf Zeit und eigene Ansprüche. Solcher Verzicht ist kein Selbstzweck, es ist Verzicht um der anderen willen. Verzicht, damit Gerechtigkeit wachsen kann unter uns. Der Prophet ruft im Namen Gottes zu solchem Fasten auf. Und versichert uns im Namen Gottes: So kann unser Leben reich werden und Gottes Herrlichkeit über uns scheinen. Er sagt: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“
Neue Spielräume tun sich auf, wenn wir uns für das befreiende Handeln Gottes öffnen. Nach biblischem Zeugnis sind wir alle geliebte Kinder Gottes. So wie Eltern ihren Kindern immer mehr Freiheit und Selbständigkeit ermöglichen, so will Gott uns immer mehr Freiheit und Selbständigkeit ermöglichen. Er will uns innerlich frei machen. Und er will uns helfen, dies auch in äußere Freiheit jeden Tag umzusetzen.
Ich denke, es ist gut und wichtig, die befreiende Kraft Gottes immer mehr oder wieder neu zu entdecken. Die Kraft, die da ist und von der es genug gibt, um uns heilsam zu verändern. Wir dürfen uns einfach für diese Kraft öffnen. Wir dürfen uns von dieser Kraft von allen falschen Bindungen und von allen unseren Unfreiheiten befreien lassen. Gott ist zu uns wie ein liebender Vater und wie eine tröstende und freundlich begleitende Mutter. Gott will, dass wir zu wirklich freien Menschen werden. Zu Menschen, die so sehr voller Gottvertrauen sind, dass sie in Freiheit, Liebe und Würde Gottes Weg gehen.
„Spielraum! Sieben Wochen ohne Blockaden.“, möge uns dieses Motto helfen und begleiten in dieser Fastenzeit.
Herzliche Grüße von Pastorin Sabine Bohlen.